Annie Ernaux: ... nicht einfach einen schönen Roman schreiben
In ihrem Roman "Erinnerungen eines Mädchens" sucht die heute 80jährige Schriftstellerin nach einer Antwort darauf, warum das Mädchen, das sie damals war, bei ihrem "ersten Mal" der Quasivergewaltigung zugestimmt hatte.
Martina Läubli fragt sie: Sie sind ein Vorbild für viele jüngere Autorinnen und Autoren, etwa für Didier Eribon, Virginie Despentes oder Edouard Louis. Was raten Sie jungen Schreibenden?
"Den gleichen Wunsch zu haben wie ich: die Literatur zu verändern."
Das Schreiben heißt nicht, einfach einen schönen Roman zu schreiben. Sondern es geht um etwas Totales. Deshalb dürfen Soziologie und Geschichte in meiner Arbeit nicht fehlen, niemals. Wir leben in einer kollektiven Geschichte. Die Geschichte durchquert uns, und die Soziologie betrachtet unsere Beziehungen zu den Menschen um uns herum, zum sozialen Milieu. Literatur darf sich nicht auf das Psychologische oder Intime beschränken. Auch in meinem Buch "Eine Frau" stelle ich mir grundsätzlich Fragen zu meiner Form des Schreibens und frage mich, was ich eigentlich will."
aus: "Die Gesellschaft ist in uns. Immer" - Interview von Martina Läubli, Neue Zürcher Zeitung 27.10.2019