Autorenbrief Dezember 2020: „Ich kann denken. Ich kann warten. Ich kann fasten“...

Liebe Autorinnen und Autoren,

... antwortet Siddharta auf die Frage der schönen Kurtisane Kamala, was er zu bieten habe, wenn sie ihn die Liebe zwischen Mann und Frau lehrte. Hermann Hesse lässt in Siddarta. Eine Dichtung den Protagonisten seine Vorzüge aufzählen: Denken – warten – fasten bis zum Augenblick der Wahrheit. Zadie Smith hat es in ihren „10 Ratschlägen zum Schreiben“ für Schriftstellerkollegen so beschrieben: „Erzähle die Wahrheit aus verschiedensten Blickwinkeln, aber erzähle sie“.  Und Karl Ove Knausgard, der in tausenden von Seiten seine All-tage zu Papier brachte, verwendet sein ganzes Leben als Rohmaterial für die Wahrheit, selbst wenn diese Art der Erzählung bei manchen Rezensenten als Ego-Literatur verpönt ist.

Verpönt sind auch die vielbenutzten Phrasen, die die Redakteure der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Kriminalromanen gefunden haben, beispielsweise: „Sein Herz raste“, “Ihr Kopf platzte vor Schmerzen“, „Die Vergangenheit holte ihn ein“, „Es lief ihm kalt den Rücken herunter“, „Irgendwo bellte ein Hund“ – von Autoren in Eile? Was Krimi-Rezensenten auch nicht mehr lesen wollen, sind Klappentexte wie: „Macht süchtig“, „Atmosphärisch dicht“, „Komplexe Figuren“. Wenn Ihnen einmal Ähnliches aufs Papier gerät, rettet Sie vielleicht ein guter Geist wie die Lektorin von Nina George. Die Autorin von Das Lavendelzimmer hat darin ihren Dank schwarz auf weiß festgehalten: „Sie sorgt dafür, dass gute Bücher besser werden. Sie killt Längen genauso zielsicher, wie sie literarische Herzensbrüche dramaturgisch verdichtet; sie stellt gefährliche Fragen und schläft, glaube ich, nie. Profis wie sie machen aus guten Schriftstellerinnen bessere Erzählerinnen.“  

Für Texte, die besser werden sollen, ist guter Rat in Buchform zur Hand: Storytelling. Kunst und Technik des Erzählens von Otto Kruse erscheint jetzt doch noch vor Weihnachten und kann ab sofort bei uns bestellt werden.  Unser neuer Autor, Psychologe und Schreibwissenschaftler,  hat in Zürich  das Centre for Academic Writing geleitet, über das Schreiben geforscht und Creative Writing gelehrt. Professor Kruse beschreibt im Kapitel „Schreiben als Lebenshaltung“ die acht Rituale, die eine kreative Entwicklung unterstützen.  Außerdem enthält sein Buch 50 Übungen zu Themen wie Entwicklung, Struktur, Plot und dramatisches Konzept wie auch zu Figurenentwicklung, Beschreibung und Dialoggestaltung. Das Buch ist ein praktischer Begleiter auf dem Weg zum Schriftsteller, denn Genie ist eine wunderbare Gabe, aber ohne die Kenntnis des Handwerks verkümmert das noch zarte Talent. Otto Kruse: Storytelling. Kunst und Technik des Erzählens, 256 Seiten, Hardcover, Lesebändchen, 19,99 Euro versandkostenfrei.

Zum Schluss noch einmal zurück zur Liebe: Kurt Tucholsky antwortete seinem Verleger auf dessen Anfrage: „Ja, eine Liebesgeschichte … lieber Meister, wie denken Sie sich das? In der heutigen Zeit Liebe? Lieben Sie? Wer liebt denn heute noch? … Sie wissen, wie sehr es mir widerstrebt, die Öffentlichkeit mit meinem persönlichen Kram zu behelligen – das fällt also fort. Außerdem betrüge ich jede Frau mit meiner Schreibmaschine und erlebe daher nichts Romantisches.“

Ich wünsche Ihnen zum Fest der Liebe, eine innige Affäre mit Ihrem Schreibinstrument und Romantik zu zweit oder allein.

Mit herzlichen Grüßen
Ihre Gerhild Tieger

P.S. Notizen und Nachrichten über Schriftsteller und das Schreiben finden Sie hier: Tieger-Blog