Autorenbrief Mai 2022: Niemals aufgeben

Liebe Autorinnen und Autoren,

kein Lösegeld hat Filippo Bernardini verlangt und auch sonst hat der Manuskriptdieb kein Geld damit gemacht. Immerhin konnte er fünf Jahre lang kostenlos und unentdeckt die interessantesten unveröffentlichten Buchmanuskripte lesen. Die forderte er bei Schriftstellern mit bekannten Namen wie Margaret Atwood, Ethan Hawke, aber auch von unbekannten Autoren an. 160 sollen es gewesen sein. Seine beruflichen Kenntnisse der Verlagsbranche halfen ihm dabei, die per E-mail angeschriebenen Autoren glauben zu machen, dass er Stoff für eine Veröffentlichung suchen würde. Ist der Mann ein Süchtiger oder ist er ein seelenkranker Literat? Schließlich beschäftigte sich das FBI mit dem Fall falscher Identität und Betrug. In den Jahren hat es viele enttäuschte Schriftsteller gegeben, die vergeblich auf ein echtes Verlagsangebot gewartet haben. Nun muss Bernardini warten – auf seine Gerichtsverhandlung in New York.

Eine besondere Art der Autobiografie ist in der Edition Moderne erschienen: Starkes Ding, eine Graphic Novel, in der Nika Nüssli das Leben ihres Vaters als „Verdingkind“ in der Schweiz erzählt und gezeichnet hat. Ihr Vater wurde mit 11 Jahren von seinen Eltern auf einen fremden Hof gegeben für 1 Franken Tageslohn, den die Eltern erhielten. Bis in die 1970er Jahre war das in der Schweiz üblich für Kinder von armen Familien, für Uneheliche, Waisen- oder Halbwaisenkinder. Das hat die Kinderbuchautorin Nika Nüssli jetzt für immer festgehalten, auch für ihren Vater, der heute 85 ist.

Julia Kohli, Schriftstellerin und freie Illustratorin hat sich drei Bücher zum Thema Depression vorgenommen, die von Autoren mit eigenen Erfahrungen geschrieben wurden: der Journalistin Barbara Vorsamer (Mein schmerzhaft schönes Trotzdem), dem vielseitigen Pseudonymbesitzer Kurt Krömer (Du darfst nicht alles glauben, was du denkst) und von Ronja von Rönne (Ende in Sicht), die vom Vorschuss ihres Romans in eine Privat-“Klapse“ geht und sich in ihrem Roman hinter der Protagonistin versteckt. „Autoren, die Intimes schriftlich für die Öffentlichkeit preisgeben, wählen Ton, Stil und Anekdoten sorgfältig aus – jede Selbstoffenbarung ist ein kuratierter Raum. Die sogenannte Authentizität, die wir heute überall fordern, ist am Ende ein sorgsames Konstrukt. … Bei autobiografischen Werken wird auch gern unser Voyeurismus bedient“, heißt es in dem Beitrag „Schreiben ist auch ein Antidepressivum“ .

Muss sich ein guter Film vom Buch befreien? hat NZZ-Redakteurin Martina Läubli gefragt. Denis Bucher, Präsidentin des Schweizerischen Verbands der Filmjournalistinnen und Filmjournalisten (SVFJ), findet: „Ja, man muss sich von seiner Vorlage emanzipieren, damit er funktioniert. Es geht ums Übersetzen. In der Literatur hat man geschriebene Sprache, welche die eigene Vorstellungskraft befeuert. Im Film hat man Bild, Ton, gesprochene Sprache, Musik. Ein Film ist ein mehrdimensionales Gebilde, das einen Raum schafft, in den man im Idealfall hineingezogen wird.“ Der Klassiker zum Thema ist Sidney Lumets Filme machen. Vom Drehbuch zum fertigen Film, ein Fachbuch über das David Mamet urteilt: "Sidney ist der Maestro … Sein Buch ist, wie seine Filme sind – freimütig, ehrlich, temporeich und sehr, sehr klug. Jeder, der ernsthaft am Film interessiert ist, sollte es lesen."

Flix, der geistige Vater des häufig blockierten Schriftstellers im wöchentlichen FAZ-Comic, hat sich in Folge 318 Gedanken gemacht, warum seine Figur so unendlich leiden muss. Er läßt den Familien-Waschbär den Grund dafür finden: Weil „Autor“ mit „Au“ beginnt und Nichtschreiben wehtut - Au, Au, Au ...

Die letzten Worte gehören heute der Schriftstellerin Eva Menasse und sind ihrer NZZ-Kolumne „Aus meinem Leben als Schriftstellerin“ entnommen: „Wer glücklicherweise nicht zu denen gehört, die kämpfen, sterben oder fliehen müssen, dem ist geboten, mit dem weiterzumachen, was er kann. … Alles könnte einem gerade das Herz brechen, trotzdem lautet weiterhin der Auftrag, niemals aufzugeben.“ Also: Schreiben Sie und erzählen Sie, jeden Tag, auch wenn es nur kurze Texte werden ...

Herzliche Grüße
Ihre gerhild tieger