Autorenbrief - Schreiben können ja alle
Liebe Autorinnen und Autoren, in einer NZZ-Kolumne unter dem ironischen Titel "Schreiben können ja alle“ warnt Eva Menasse vor Lesungsteilnehmern, die um Profi-Rat bitten, vor Zuhörern, die den Autor nach der Lesung mit der Frage überfallen, "sie hätten da einen Stoff in petto, ob man als Profi mal einen Tipp geben könnte.“ Besonders wenn jemand mit dem "Atombombensatz" kommt: "Also ich könnte ja Romane schreiben, wenn ich endlich einmal Zeit hätte." Denn "um einen Roman zu schreiben, muss man lange üben, hart arbeiten und ziemlich viel Handwerk lernen, auf welche Weise auch immer, denn die Autoren kommen auf verschiedenen Wegen zu ihrer Kunst". Und weil man "als Schriftsteller frühestens mit dem ersten Buch geboren wird, und selbst dann fremdeln die meisten noch lange mit der Berufsbezeichnung". Und woran erkennt man Schriftsteller? Wie zieht sich Autor an? Kann man sich kleidungsmäßig als Autor outen? Beim Rätseln um ein Erkennungszeichen liegt man mit der Farbe SCHWARZ, zumindest aber DUNKEL als Intellektuellenverdächtige richtig. Stilvoll und offensichtlich nicht billig ziehen sich zum Beispiel Schriftstellerinnen wie Elfriede Jelinek oder Herta Müller und Sibylle Berg an. Aber die gehören ja auch in den Honorar-Olymp. Die Psychologin Petra Jagow meint, das Leben im Lockdown verändere die Figur: "Fast alle haben zugenommen, zu Haus arbeiten heißt, ich arbeite in der Nähe des Kühlschranks." Ich glaube eher, dass Autorinnen gegen diese Versuchung gefeit sind: Nicht mal Schreiben in Cafés-Autorin Natalie Goldberg lässt sich zu mehr als einem Schokoladen-Cookie als Belohnung fürs Scheiben verführen. Der Coach Klaus Siefert hat in der FAZ seine Thesen zur Typeneinteilung in "Sechs Kerntalente" veröffentlicht. Darunter fand ich zwei für Schriftsteller wichtige Talente: "Filmtalent: Menschen, die sich alles bis ins Detail wie auf der Leinwand vorstellen, Farben, Formen, Abläufe, jeden Handgriff, wann was gemacht wird. Sie können etwas eins zu eins umsetzen, was sie sich vorstellen." – Sicher gehören Sie, liebe Autorinnen dazu! Schließlich sind das die Türen zur Fantasie." "Empathietalent: Das ist nah am Filmtalent. Diese Menschen versetzen sich mühelos in anstehende Situationen und Personen hinein. Sie können das an anderen wahrnehmen, was diese selbst nicht sehen. Sie erfassen das Innere eines Menschen und welchen Schritt derjenige für eine Lösung tun kann. Prädestiniert sind solche Typen für therapeutische, psychologische Arbeiten, aber auch fürs Drehbuchschreiben." Haruki Murakami, der es übrigens ablehnt, seine Bücher verfilmen zu lassen, hat sich in der Geschichte "Bekenntnis des Affen von Shinagawa" in seinem neuesten Buch Erste Person Singular (Dumont) in einen kritischen Lektor versetzt: "Um eine fiktive Geschichte daraus zu machen, fehlte ein Fokus und so etwas wie eine Pointe. Noch ehe ich sie überhaupt geschrieben hatte, konnte ich mir den verwirrten Gesichtsausdruck des Lektors bei der Lektüre des Manuskripts vorstellen. Sie sind der Autor, und ich frage nur ungern, aber worum geht es eigentlich in dieser Geschichte? Was ist das Thema?, würde er mich fragen." "Thema? Es gibt kein Thema", antwortet der fiktive Autor. "Die Geschichte handelt von einem alten Affen, der ... sich nur in menschliche Frauen verlieben kann." Wenn man Murakami ist, darf man alles, andere Autoren müssen sich weiter quälen. Herzliche Grüße Ihre Gerhild Tieger |